Eine paradiesische Geste
„Nostalgie interessiert mich nicht. Ich bin auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, um Ideen Ausdruck zu verleihen.“
Vor Kurzem erst ist Holly Herndon von San Francisco nach Berlin gezogen, von wo aus sie einen PhD in Komposition an der Universität von Stanford absolviert. Herndon, deren Kompositionen weder Genres noch andere Grenzen kennen, ist stets auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen, die heute ebenso relevant sind wie in Zukunft. Auch als elektronische Live-Musikerin und Produzentin hat sich Herndon einen Namen gemacht und im Vorprogramm von bedeutenden Bands wie Radiohead gespielt. Beständig erweitert sie das Feld zeitgenössischer Musik durch ihr Experimentieren mit neuartigen Formen, in dessen Zentrum stets die Frage nach der menschlichen Interaktion in einer zunehmend digitalisierten Welt steht.
Aus dieser digitalen Zukunft zieht Herndon die Inspiration für ihre Arbeit. Wie können wir Fühlen und Sprechen dergestalt modifizieren, dass sie mit dem epochalen Wandel Schritt halten, den die Digitalisierung darstellt? Mit ihrer Musik versucht Herndon Umgebungen zu schaffen, in denen das Körperliche mit dem Digitalen koexistieren kann. Von dystopischen Zukunftsszenarien hält Herndon nichts. Stattdessen versucht sie, der menschlichen Stimme Raum zu geben, auch dort, wo sich diese Stimme zunehmend mit digitalisierten Gegenspielern auseinandersetzen muss. Herndon selbst beschreibt ihre Musik als „Bruch“, als eine „paradiesische Geste“ – und bekommt so perfekt die Zweigleisigkeit ihres Ansatzes zu fassen: Denn womit man es hier zu tun hat, das ist ein Bruch mit der Vergangenheit, der aber zugleich eine innovative und progressive Vision der Zukunft zu entwickeln sucht.
Herndon lässt sich von Menschen inspirieren, die Weltmodelle entwerfen und dazu komplett neue Paradigmen denken. Ihr geht es nicht darum, möglichen Bewerbern ein abgeschlossenes Regelwerk vorzusetzen. Viel lieber möchte sie sich mit einem „Mentee“ zusammentun, der in ihrem Feld eine einzigartige Stimme herausbildet. Sie hofft, von ihrem „Mentee“ lernen zu können und ihren eigenen Wissenshorizont zu erweitern – beispielsweise indem sie mit jemandem arbeitet, der nicht aus Nordamerika oder Europa stammt, jenen Weltregionen, mit denen Herndon selbst sich am besten auskennt. Im Rahmen von Forecast wird das Gespann im gemeinsamen Austausch in neue kreative Bereiche vordringen – und beide werden davon profitieren.
Herndon, die 2015 ihr Album Platform veröffentlicht hat, arbeitet momentan an ihrem dritten Studioalbum, für das sie mit einem Vokalensemble zusammenarbeitet, um verschiedene Gruppenprozesse und die Möglichkeiten polyphoner Sprachverarbeitung auszuloten. In ihrer Arbeit unterstreicht sie stets, wie wichtig es ist, eine neue Vorstellung von den Dingen zu entwickeln und gemeinsam strategisch vorzugehen. Oft tut sie sich dazu mit ihrem Partner, dem Künstler und Technologen Mathew Dryhurst zusammen.
Holly Herndon über Forecast